Zwischen Deutschland und Rußland – Zum 120. Geburtstag von Karl Radek

Von Hans-Werner Klausen

Vor 120 Jahren begann das Leben eines Mannes, der sowohl mit Deutschland als auch mit Rußland verbunden war, obwohl er weder Deutscher noch Russe war. Die Rede ist von Karl Radek, der seinerzeit einer der besten Publizisten in der deutschen und russischen Sprache war, obwohl er in seiner Aussprache den polnischen Akzent niemals los wurde. Die Urteile seiner Zeitgenossen über ihn waren höchst unterschiedlich.

Rosa Luxemburg (1912): „Radek, gehört zum Typus Dirne, wir können mit ihm noch manches erleben; es ist deshalb besser, sich ihn vom Leibe zu halten.“

Walter Rathenau: „Er ist zweifellos klug und witzig, aber ein schmieriger Kerl, der echte Typus eines gemeinen Judenjungen.“

Gustav Hilger, der als deutscher Diplomat in Moskau oft mit Radek zusammentraf: „Sprachlich und kulturell stand er Deutschland sehr viel näher als seiner Wahlheimat Rußland. Und obwohl er die russische Sprache nie völlig zu beherrschen lernte und sie mit einem deutlichen polnischen Akzent sprach, brachten ihm seine enge Verbundenheit mit den Massen, sein einnehmender Witz und seine Schlagfertigkeit in Arbeiterversammlungen stets herzlichen und spontanen Beifall ein…Der Umgang mit Radek war ungemein reizvoll, weil er seine Meinungen glänzend und originell auszudrücken und höchst umstrittene und heikle politische Probleme mit überraschendem Freimut zu erörtern pflegte. Für uns war jedoch die wichtigste Entdeckung, daß dieser professionelle Revolutionär, dieser überzeugte Internationalist eine große Schwäche hatte: Deutschland. Der polnische Jude aus dem österreichischen Galizien fühlte sich durch engste kulturelle Bande an Deutschland gefesselt und sprach Deutsch besser als jede andere fremde Sprache…Obwohl seine journalistische Tätigkeit und seine ständige Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten die deutsch-russischen Beziehungen oft auf eine harte Probe stellten, konnten wir immer auf ihn rechnen, wenn es darum ging, uns in schwierigen Situationen bei unseren Verhandlungen mit der Sowjetregierung zu helfen.“

Karl Radek wurde am 31. Oktober 1885 als Karol Sobelsohn in Lemberg als Sohn eines Postbeamten und einer Volksschullehrerin geboren. Die Familie war assimiliert, so daß Radeks Muttersprache polnisch und nicht jiddisch war (1918 meinte Radek zum deutschen Journalisten Alfons Paquet, er halte das Judentum nach einem Wort Heines für eine Krankheit und er würde die Juden am liebsten ausrotten), und hatte (wie viele gebildete Juden Mittel- und Osteuropas vor 1933) eine starke Affinität zur deutschen Kultur. Bevor sich der junge Radek dem Sozialismus zuwandte, war er als Schüler polnisch-national eingestellt, daraus ergaben sich zu dieser Zeit sogar Sympathien für den Katholizismus. 1902 schloß er sich als Student der Krakauer Universität der (patriotischen) Polnischen Sozialistischen Partei an, 1904 trat er zur (internationalistischen) Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens über und begann als „Radek“ zu schreiben.

Wegen seiner Teilnahme an der Revolution von 1905 wurde er 1906 in Warschau verhaftet, nach seiner Freilassung ging er 1908 nach Deutschland. Hier war er Mitarbeiter sozialdemokratischer Zeitungen, für die er besonders zu außenpolitischen Themen schrieb, und trat bei innerparteilichen Auseinandersetzungen als Vertreter des linksradikalen Flügels hervor (in dieser Zeit begann seine Freundschaft mit August Thalheimer). Gleichzeitig beteiligte er sich weiterhin am Parteileben der polnischen Sozialdemokratie. Nach der Spaltung der polnischen Sozialdemokratie wurde er von Leo Jogiches des Betrugs, Diebstahls und Unterschlagungen beschuldigt und Jogiches wirkte beim SPD-Vorstand auf den Ausschluß Radeks hin. Für den deutschen Parteivorstand war dies eine willkommene Gelegenheit um einen lästigen Störenfried loszuwerden. Der Parteitag 1913 beschloß, daß aus einer Bruderpartei ausgeschlossene Mitglieder aus der deutschen Partei automatisch auszuschließen seien. Zu dieser Zeit wurde Lenin, dessen Verhältnis zu Rosa Luxemburg und Jogiches wegen ihrer Stellung in den russischen Fraktionskämpfen damals sehr schlecht war, auf Radek aufmerksam.

Als der erste Weltkrieg ausbrach, ging Radek in die Schweiz um sich dem Militärdienst in der Armee Österreich-Ungarns zu entziehen. Von der Schweiz aus hielt er Verbindung zu den Bremer Linksradikalen. Gleichzeitig arbeitete er eng mit Lenin zusammen; ab 1915 bildeten Lenin, Sinowjew und Radek das Büro der Zimmerwalder Linken, aus der 1919 die Komintern hervorging. Da Radek in der nationalen Frage damals „luxemburgistische“ Ansichten vertrat, war das Verhältnis zu Lenin nicht gerade herzlich, doch da Radek gleichzeitig für Lenin sehr nützlich war, wurde das gegenseitige Verhältnis immer wieder eingerenkt. 1917 gehörte Radek zur Reisegesellschaft im „plombierten Wagen“.

In Stockholm bildeten Radek, Hanecki und Worowski die Auslandsvertretung des bolschewistischen ZK. Die offiziellen Aufgaben waren die Herausgabe der „Russischen Korrespondenz Prawda“ und die Kontaktpflege zu ausländischen linken Sozialisten. Die inoffizielle Aufgabe war die Verbindung zum „Freibeuter der Revolution“ Parvus, in dessen Handelsfirma die deutschen Gelder für die Bolschewiki „gewaschen“ wurden (Hanecki war gleichzeitig Angestellter bei Parvus; 1937 wurde er in Moskau als „deutscher Spion“ erschossen, in diesem Falle enthielt die Anklage ein winziges Körnchen Wahrheit, auch wenn letzten Endes die Bolschewiki das deutsche Kaiserreich ausgenutzt hatten und nicht umgekehrt).

Im November 1917 kam Radek nach Petrograd und wurde Chef der Mitteleuropaabteilung im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel). Als Gegner des Brester Friedens gehörte er im Frühjahr 1918 zu den Führern der „linken Kommunisten“; im Sommer 1918 schloß er sich der Position Lenins an. Neben seiner diplomatischen Tätigkeit wurde er einer der bekanntesten sowjetischen Journalisten. Ende Dezember 1918 reiste er illegal nach Deutschland ein, um als Vertreter der russischen Sowjetrepublik am Gründungsparteitag der KPD teilzunehmen (als sich Radek vor dem Parteitag bei den Spartakusführern meldete, war der Empfang durch Rosa Luxemburg, die Radek nicht ausstehen konnte, „korrekt“). Zur Begleitung Radeks gehörte das spätere „Frontstadt“symbol Ernst Reuter, der 1918 im Auftrag Lenins und Stalins die bolschewistische Verwaltung bei den Wolgadeutschen organisiert hatte und von 1919 bis 1922 als „Genosse Friesland“ zum Führungspersonal der KPD gehörte (1921 als Generalsekretär).

Radek sah (im Unterschied zu den meisten deutschen Genossen) schnell, daß eine schnelle Machtübernahme durch den Spartakusbund irreal war und daß die deutschen Kommunisten zu einer Politik auf lange Sicht übergehen müßten. Da der Gründungsparteitag die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung abgelehnt hatte und im allgemeinen radikaler als die „Spartakus“-Führung war , stand er der neuen, noch recht unbolschewistischen Partei ziemlich skeptisch gegenüber.Radek erinnerte sich 1926: „Der Parteitag demonstrierte grell die Jugend und die Unerfahrenheit der Partei. Die Verbindung mit den Massen war äußerst schwach…Ich fühlte nicht, daß hier schon eine Partei vor mir war.“ Im Februar 1919 wurde Radek verhaftet. Zunächst befand er sich in Einzelhaft; im August 1919 wurde das Ermittlungsverfahren (Radek war zu Unrecht für den Januaraufstand verantwortlich gemacht worden) eingestellt und die Untersuchungshaft zur militärischen „Schutzhaft“. Jetzt wurde sein Gefängnis zum „politischen Salon“, wo er Offiziere (unter ihnen die früheren jungtürkischen Machthaber Enver Pascha und Talaat Pascha), Journalisten, Politiker und Wirtschaftsbosse (unter ihnen Walter Rathenau) empfing. Gleichzeitig hielt er Verbindung zur KPD und schrieb mehrere Broschüren. Als Radek im Januar 1920 nach Moskau zurückkehrte, konnte er Deutschland mit dem Gefühl verlassen, seine Zeit in Berlin nicht umsonst verbracht zu haben.

Radek war 1919 in Abwesenheit in das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei gewählt worden und wurde nach seiner Ankunft in Moskau Präsidiumsmitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI). Beide Ämter behielt er bis 1924, zugleich arbeitete er auch auf der diplomatischen und publizistischen Linie. Sowohl im EKKI als auch auf der diplomatischen Linie befaßte er sich vor allem mit deutschen Fragen. Da die Auffassungen des EKKI und des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten darüber, wie den Interessen Sowjetrußlands am besten gedient sei, nicht immer übereinstimmten, erforderte dies viele Fähigkeiten zum Balancieren; dafür war Radek der richtige Mann. Legal wie illegal war er mehrmals in Deutschland. Anfang 1922 führte er in Berlin die Vorverhandlungen zum Rapallo-Vertrag; bei dieser Gelegenheit traf er auch den Chef der deutschen Heeresleitung, General von Seeckt, was für die späteren Beziehungen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee von Bedeutung war.

Neben Trotzki und Lunatscharski galt Radek als bester bolschewistischer Publizist; sein beißender Witz machte auch vor seinen Genossen nicht halt, damit machte er sich nicht nur Freunde; dagegen konnte er zu bürgerlichen Gesprächspartnern sehr liebenswürdig sein. In den Diadochenkämpfen, die nach der Erkrankung Lenins zunächst versteckt ausgetragen wurden, lehnte sich Radek (wie Trotzki ein Kosmopolit und erst seit 1917 in der bolschewistischen Partei) eng an Trotzki an. Im März 1923 veröffentlichte er einen lobhudelnden Artikel „Leo Trotzki – der Organisator des Sieges“; zur gleichen Zeit wurde die Stadt Gatschina (bei Petrograd) in „Trotzk“ umbenannt, während Zarizyn erst 1925 in Stalingrad umbenannt wurde. Man sieht also, daß nicht Stalin mit dem „Personenkult“ begonnen hat (1935 veröffentlichte Radek einen Artikel „Der Feldherr des Proletariats“; der scharfsinnige Leser wird bald erraten, auf wen sich 1935 dieser Titel bezog). Als Radek zusammen mit Trotzki einen Sitzungssaal betrat, rief Woroschilow: „Hier kommt der Löwe mit seinem Schwanz.“ Darauf Radek: „Besser der Schwanz des Löwen als Stalins Arsch“. Bald wurden ihm alle in Moskau kursierenden antisowjetischen Witze zugeschrieben (eine Art „Sender Jerewan“ der zwanziger und dreißiger Jahre).

Am 20. Juni 1923 hielt Radek vor der Erweiterten Exekutive seine Rede „Leo Schlageter- der Wanderer ins Nichts“. Hier erklärte Radek offen, daß Schlageter ein Klassengegner der Kommunisten war und würdigte ihn zugleich: „Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden.“ „Wer im Dienste der Schieber, der Spekulanten, der Herren von Eisen und Kohle versuchen will, das deutsche Volk zu versklaven, es in Abenteuer zu stürzen, der wird auf den Widerstand der deutschen kommunistischen Arbeiter stoßen. Sie werden auf Gewalt mit Gewalt antworten. Wer aus Unverständnis sich mit den Söldlingen des Kapitals verbinden wird, den werden wir mit allen Mitteln bekämpfen. Aber wir glauben, daß die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes uneigennütziges Blut nicht verspritzen um der Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.“

Nach der Rede Radeks kam es in der Presse zu einem sachlichen Dialog mit Moeller van den Bruck und dem Grafen Reventlow. Auch in späteren Jahren verfolgte Radek Entwicklungen in der intellektuellen Rechten. So meinte er, Ernst Jünger für die KPD zu gewinnen sei wichtiger als neue Wählerstimmen und 1932 traf er sich in Moskau mit Ernst Niekisch.

Im Oktober 1923 fuhr Radek nach Deutschland, um den dortigen Revolutionsversuch zu leiten. Im Dezember 1923 nach Moskau zurückgekehrt, nahm er auf der Seite Trotzkis an den offen ausgebrochenen Fraktionskämpfen in der bolschewistischen Partei gegen die „Troika“ Sinowjew-Kamenew-Stalin. Zur gleichen Zeit begann in Moskau die Suche nach Schuldigen für das Scheitern des „deutschen Oktober“. Indem Sinowjew Radek und den (von Radek unterstützten) KPD-Vorsitzenden Brandler zu Schuldigen erklärte, konnte er gleichzeitig die Position seines Konkurrenten Trotzki schwächen.

Die XIII. Parteikonferenz (Januar 1924) , der XIII. Parteitag (Mai 1924) und der V. Komintern-Kongreß (Juni – Juli 1924) verurteilten die Politik Radeks; Radek wurde nicht mehr ins EKKI und in das russische ZK gewählt. Bis 1927 schrieb Radek weiterhin zahlreiche Artikel für die sowjetische Presse, besonders zu außenpolitischen und internationalen Fragen. Da Radek und die in Moskau „kominternierten“ Brandler und Thalheimer weiterhin Verbindung zu Gesinnungsgenossen in Deutschland unterhielten, beantragte die KPD-Zentrale unter Ruth Fischer in Moskau den Parteiausschluß von Brandler, Thalheimer und Radek; die Russen begnügten sich mit der Androhung des Ausschlusses.

1925 wurde Radek zum Rektor der Sun-Yatsen-Universität ernannt (1926 zum Lektor degradiert). Dies war eine Ausbildungsstätte für chinesische kommunistische Kader. Unter den Studenten Radeks war auch der junge Deng Xiaoping. Als es Ende 1925 zum Bruch zwischen Stalin und Sinowjew kam, wurde Trotzki von beiden als Bündnispartner umworben. Radek befürwortete einen Block Trotzki-Stalin gegen Sinowjew. Nachdem sich Trotzki 1926 für einen Block mit Sinowjew gegen Stalin entschieden hatte, blieb Radek auf der Seite Trotzkis und beteiligte sich aktiv am Fraktionskampf. Dies führte zum Bruch Radeks mit seinen deutschen Freunden Brandler und Thalheimer, die Stalins und Bucharins Politik für richtig hielten und die schlechten Erfahrungen mit Sinowjews selbstherrlichen Führungsstil in der Komintern nicht vergessen hatten. Der XV. Parteitag schloß mehrere Anhänger Trotzkis und Sinowjews, darunter Radek, aus der Partei aus; im Januar 1928 folgte die Verbannung nach Sibirien.

Nachdem Trotzki im Januar 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war, kapitulierte Radek im Mai 1929 vor der Stalinschen „Generallinie“ und durfte nach Moskau zurückkehren. Radek wurde wieder zum sowjetischen Starjournalisten. Nachdem Stalin 1931 seinen Brief „Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus“ veröffentlicht hatte, geißelte sich Radek wegen seines früheren Luxemburgismus und Trotzkismus. Auch auf dem XVII. Parteitag (1934) hielt Radek eine „selbstkritische“ Rede. Seine Rede wurde gnädig aufgenommen; er konnte mehrmals die Lacher auf seine Seite ziehen und bekam am Ende Applaus. Vor dem Parteitag veröffentlichte er in der „Prawda“ unter dem Titel „Der Baumeister der sozialistischen Gesellschaft“ einen Huldigungsartikel auf Stalin; anschließend wurde der Artikel in einer riesigen Auflage (225.000 Exemplare) als Broschüre herausgegeben und auch in mehrere Westsprachen übersetzt. Radek wurde auch für halbdiplomatische Aufgaben verwendet. So traf er sich 1933 in Warschau mit Pilsudski.

Auch für deutsche Fragen interessierte er sich weiterhin. Im August 1934 sprachen Radek und Bucharin mit dem deutschen Presseattaché Baum und dem Königsberger Professor Oberländer. Baum berichtete Gustav Hilger später, Radek habe bei dieser Gelegenheit seiner Bewunderung für das Organisationstalent der Nationalsozialisten und die Begeisterung der deutschen Jugend Ausdruck gegeben. „In den Gesichtern der deutschen Studenten, die im braunen Hemd dahinmarschieren“, soll er ausgerufen haben, „erkenne ich die gleiche Hingabe, die einst die Gesichter der Offiziersanwärter der Roten Armee und der deutschen Freiwilligen von 1813 erhellte.“ Radek habe sich allerdings nicht enthalten können, hinzuzufügen: „Es gibt ganz prächtige Burschen bei der SA und SS, eines schönen Tages werden sie bestimmt noch Handgranaten für uns werfen!“

Im August 1936 (bis dahin war Radek noch an der Ausarbeitung der neuen sowjetischen Verfassung beteiligt) fand in Moskau der Prozeß gegen das „terroristische trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum“ statt. Aus diesem Anlaß veröffentlichte die sowjetische und die Komintern-Presse Radeks letzten Artikel: „Die trotzkistisch-sinowjewistische Faschistenbande und ihr Hetman Trotzki“. Als der Artikel veröffentlicht wurde (am 21. August), brachte die Presse am selben Tag eine Mitteilung des Generalstaatsanwalts Wyschinski über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Radek, der von mehreren Angeklagten belastet worden war. Radek wurde am 22. September 1936 verhaftet.

Vom 23. – 30. Januar 1937 fand der Prozeß gegen das „trotzkistische parallele Zentrum“ mit Pjatakow, Radek, Sokolnikow und Serebrjakow als Hauptangeklagten statt. Radek gestand sowohl landesverräterische Verbindungen zu Ausländern, als auch die Vorbereitung der Ermordung Stalins und anderer Führer (die Terrorgruppen waren vorwiegend aus Historikern rekrutiert) und die Mitwisserschaft um Trotzkis verräterische Vereinbarungen mit Deutschland und Japan. Radek leierte seine Aussagen nicht lustlos herunter, sondern trug sie mit viel Gefühl vor und gab sich jede Mühe seine letzte Rolle, die des zerknirschten Verschwörers, Spions und Mörders überzeugend zu spielen. Er beschrieb die herzzereißenden Leiden, die er angesichts seiner Gewissensqualen zu erdulden hatte, wimmerte und geißelte sich selbst ohne Schonung. Er schilderte, wie ihm angesichts der Erfolge des Landes unter Stalins Führung der verbrecherische Charakter von Trotzkis Direktiven klar wurde. „Einfach mir nichts, dir nichts, um der schönen Augen Trotzkis willen sollte das Land zum Kapitalismus zurückkehren.“ Nachdem Wyschinski Radek einige Fangfragen gestellt hatte, erinnerte er daran, daß Radek nach seiner Verhaftung ungefähr drei Monate geleugnet hatte. „Stellt das nicht die Richtigkeit dessen infrage, was Sie über Ihre Schwankungen, Zweifel gesagt haben?“ Darauf sagte Radek zuviel des Guten: „Ja wenn man die Tatsache außer Acht läßt, daß Sie über Programm und Direktiven Trotzkis nur durch mich erfuhren, dann ist natürlich das von mir Gesagte in Zweifel zu ziehen.“

Auch in seinem Schlußwort war Radek in Hochform. Er sprach, als er sich in Fahrt geredet hatte, die Richter mit „Genossen Richter“ (statt vorschriftsmäßig „Bürger Richter“) an und erklärte: „Wenn hier die Frage danach aufgeworfen wurde, ob man uns während der Untersuchung gequält hat, so muß ich sagen, daß nicht ich gequält wurde, sondern daß ich die Untersuchungsrichter quälte, indem ich ihnen unnütze Arbeit aufbürdete.“ Ziemlich zweideutig klang Radeks Erklärung, der Prozeß habe gezeigt, „daß die trotzkistische Organisation zur Agentur der Kräfte geworden war, die einen neuen Weltkrieg vorbereiten. Welche Beweise gibt es für diese Tatsache? Für diese Tatsache gibt es Aussagen von zwei Leuten – meine Aussagen, daß ich Direktiven und Briefe Trotzkis bekommen habe (die ich leider verbrannt habe) und die Aussagen Pjatakows, der mit Trotzki gesprochen hat. Alle anderen Aussagen der übrigen Angeklagten – sie beruhen auf unseren Aussagen. Wenn Sie es mit reinen Kriminalverbrechern, mit Spitzeln zu tun haben, worauf können Sie dann Ihre Überzeugung begründen, daß das, was wir gesagt haben, die Wahrheit, die unerschütterliche Wahrheit ist?“

Am 30. Januar 1937 wurden 13 Angeklagte zum Tode verurteilt; Radek (er bekam 10 Jahre), Sokolnikow und zwei untergeordnete Angeklagte kamen mit Haftstrafen davon. Der Führer der fortschrittlichen Menschheit persönlich hatte bei diesen vier die im ursprünglichen Urteilsentwurf vorgesehenen Todesurteile aus unbekannten Gründen umgewandelt; die Anklage und die Geständnisse Radeks hätten jedenfalls ein Todesurteil gerechtfertigt. Radeks Frau starb 1941 in der Verbannung, seine Tochter verbrachte die Jahre 1937 – 1956 abwechselnd in der Verbannung und im Lager und erlebte 1988 noch die Rehabilitierung ihres Vaters.

In den Gefängnissen führten Radek und Sokolnikow Gespräche über ihre „Unschuld“ und äußerten sich negativ über Stalin. Der Vater der Völker erfuhr durch Spitzelberichte davon und schließlich wurden Maßnahmen eingeleitet. Im Mai 1939 wurden Radek und Sokolnikow auf Anweisung Berijas und seines Stellvertreters Kobulow heimlich beseitigt. Man bediente sich dabei ehemaliger NKWD-Mitarbeiter, die wegen politischer und dienstlicher Vergehen Haftstrafen verbüßten. Bei der Planung der Operation im NKWD bestand Kobulow auf tadelloser Durchführung und verwies darauf, daß Stalin von der Operation Kenntnis habe. Als Todesdatum Radeks wird in neueren russischen Nachschlagewerken der 19. Mai 1939 angegeben.

Erstveröffentlichung im November 2005 in der Berliner Umschau