Von der Nomenklatura zum Liberalismus – Zum Tode von Alexander Jakowlew, Schutzpatron der Glasnost

Von Hans-Werner Klausen

„Im Großen und Ganzen hat mich der Marxismus nie interessiert“. Dieser Satz aus den Memoiren des am 18. Oktober 2005 verstorbenen Gorbatschow-Vertrauten Alexander Jakowlew wird auf manchen befremdlich wirken, denn dessen Autor gehörte unter Chruschtschow und Breshnew viele Jahre und – nach zehnjähriger Unterbrechung – dann wieder unter Gorbatschow zu den Verwaltern des „Marxismus-Leninismus“.

Für Leser von Jakowlews Memoiren, die im „realen Sozialismus“ gelebt haben, ist dieser Satz allerdings nicht allzu verwunderlich, denn lange vor dem Ende des Ostblocks war die offizielle Ideologie dort bereits tot. Mit dem Ende der Sowjetunion hat sich der Teil der Nomenklatura, der in die postsowjetische Elite überging, nur einer Rechtfertigungs- und Verschleierungsideologie entledigt. Jakowlew selbst, der sich nach der Auflösung der Sowjetunion als „Sozialdemokraten“ bezeichnete und in in Wahrheit eher ein radikaler Liberaler war, hatte vorher einen langen Weg innerhalb der Nomenklatura zurückgelegt.

Der am 2. Dezember 1923 in einem Dorf der Provinz Jaroslawl geborene Alexander Nikolajewitsch Jakowlew kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg an der Wolchow-Front und wurde nach einer schweren Verwundung 1943 nach Hause geschickt. 1946 beendete er sein Studium am Pädagogischen Institut von Jaroslawl. Jakowlew, seit 1944 Parteimitglied, wurde 1946 Instrukteur im Partei-Gebietskomitee seiner Heimatprovinz und brachte es dort bis bis zum 1953 zum Abteilungsleiter seines Gebietskomitees. Kurz nach nach Stalins Tod wurde er nach Moskau in den Apparat des Zentralkomitees versetzt.Er begann als Instrukteur in der Abteilung für Schulen und kletterte langsam die Karriereleiter aufwärts. Am 25. Februar 1956 nahm Jakowlew an der geschlossenen Sitzung des XX. Parteitages teil, auf der Chruschtschow seine Geheimrede hielt. Hier bekam Jakowlews Glaube an die Richtigkeit der offiziellen Ideologie einen ersten Knacks. Freimütige Äußerungen Chruschtschows über Alltagsprobleme hatte er bereits vorher auf internen Beratungen notiert. So hatte Chruschtschow 1954 in seiner Gegenwart erklärt:

„Wir haben uns wie Popen und Prediger aufgeführt, versprechen das Himmelreich, wir haben aber keine Kartoffeln…Wis sind keine Popen, wir sind Kommunisten, wir sollten für das irdische Glück sorgen. Ich war ein Arbeiter und es gab noch keinen Sozialimus, aber es gab Kartoffeln; jetzt haben wir den Sozialismus aufgebaut und keine Kartoffeln.“ Jakowlew schreibt darüber in seinen Memoiren: „Ich glaubte, daß im ZK alle oder fast alle wahrheitsgemäß arbeiten. Millionen Menschen träumten von der lichten Zukunft und wiesen diejenigen zurück, die der schnelle Lauf zum Glück, das gleich um die Ecke wartete, störte. Und da fallen diese erschreckenden Worte, die man früher nur den Imperialisten, Trotzkisten und anderen Volksfeinden zugeschrieben hatte.“

Von 1956 bis 1960 studierte Jakowlew an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU, zwischendurch absolvierte er von 1957 bis 1958 mit einer Gruppe handverlesener sowjetischer Studenten ein einjähriges Praktikum an der New Yorker Columbia University. 1960 kehrte er in den ZK-Apparat zurück, diesmal als Sektorenleiter in der Abteilung für Agitation und Propaganda. In dieser Abteilung blieb er bis 1973, zuletzt als amtierender Abteilungsleiter. Unter Breshnew war er somit innerhalb der Nomenklatura kein kleines Licht mehr; ein Abteilungsleiter im ZK stand in der Parteihierarchie auf der selben Ebene wie ein Minister im Staat. In Jakowlews Memoiren wird diese Karriere eher wortkarg beschrieben. An einer anderen Stelle, wo von Gorbatschow die Rede ist, heißt es allerdings, wer die Karriereleiter der Partei hochgestiegen sei, habe schmeicheln und mit List und Tücke arbeiten müssen; zufällig sei niemand in die höchsten Ränge gelangt. Dies ist deutlich genug und muß vom Leser wohl auch auf Jakowlew selbst bezogen werden. Immerhin geht aus Jakowlews Schilderungen des ZK-Apparats sowohl unter Chruschtschow und Breshnew als auch unter Gorbatschow hervor, daß man dort ständig vor tückischen und intriganten „Genossen“ auf der Hut sein mußte. Der in den Westen gegegangene ehemalige Apparatschik Michail Voslensky hatte dies bereits 1980 in seinem Buch „Nomenklatura“ anschaulich beschrieben.

1973 gab es für Jakowlew einen Karriereknick. Er hatte einen Artikel veröffenticht, in dem er gegen nationalpatriotische Publizisten polemisierte. Michail Scholochow beschwerte sich darüber beim ZK und Jakowlew verlor seinen Posten, ohne jedoch ins Bodenlose zu fallen. Er wurde zum Botschafter in Kanada ernannt und blieb dort bis 1983. Die Kanadier waren überrascht, daß der neue Botschafter ein humorvoller Mann war und Jakowlew konnte ein freundschaftliches Verhältnis zum langjährigen Premierminister Pierre Trudeau aufbauen. Trudeaus Sohn Alexander wurde mit Jakowlews russischem Spitznamen „Sascha“ gerufen.

1983 besuchte das jüngste Mitglied des Politbüros Michail Gorbatschow Kanada . Gorbatschows Gespräche mit dem Botschafter erwiesen sich als entscheidend für Jakowlews weitere Karriere. Als Favorit des Generalsekretärs Andropow konnte Gorbatschow die Rückberufung Jakowlews aus seiner Ehrenverbannung und dessen Ernennung zum Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften durchsetzen. 1984 begleitete Jakowlew den künftigen Generalsekretär nach England und nahm an dessen Gesprächen mit Margaret Thatcher teil.

Als Generalsekretär brachte Gorbatschow „seine“ Leute in Schlüsselstellungen des Apparats unter. Jakowlew wurde im Juli 1985 Chef der Propagandaabteilung des ZK und im März 1986 zum ZK-Sekretär befördert. Im Januar 1987 wurde er Kanidat und im Juni 1987 Mitglied des Politbüros. Mit der offiziellen Ideologie hatte der Propagandachef jetzt nicht mehr viel im Sinn. Jakowlew, aus dessen umfangreichen Memoiren nicht hervorgeht, wann er den Glauben an die Richtigkeit des „Marxismus-Leninismus“ und die Überlegenheit des sowjetischen Systems verloren hatte, notierte Ende 1985 zur Selbstverständigung: „In unserer Praxis stellt der Marxismus nichts anderes andere dar als eine neue Religion, die den Interessen und Launen einer absoluten Macht unterworfen sind, einer Macht, die diese Religion dutzende Male in den Himmel hob und dann ihre eigenen Götter, Propheten und Apostel in den Schmutz trat.“

Als Verantwortlicher für die Medien war Jakowlew der eigentliche Vater der Glasnost. Die Zensur wurde immer weiter gelockert, die Zeitungen wurden lesbar, zahlreiche verbotene Werke der russischen und der Weltliteratur wurden den Sowjetmenschen zugänglich.

Um von den Mißerfolgen der Perestroika auf wirtschaftlichem Gebiet abzulenken und die liberale Intelligenz für die Unterstützung der Perestroika zu mobilisieren, wurde die Glasnost ab 1987 auf die Geschichte des eigenen Landes ausgedehnt, so daß verfemte Parteiführer ihren Status als „Unpersonen“ verloren und wieder in Gruppenfotos auftauchten, die die Sowjetmenschen seit fünfzig Jahren nur in retuschierter Fassung kennengelernt hatten. In den Medien konnten erstmalig unterschiedliche Standpunkte zu Problemen der Geschichte der Partei und des Staates geäußert werden. Im Herbst 1987 wurde Jakowlew Mitglied der neu gegründeten Rehabilitierungskommission des Politbüros, deren Vorsitz er im Oktober 1988 übernahm. Die Kommission veranlaßte die Annulierung der Moskauer Prozesse und zahlreicher Geheimprozesse (bis 1990 waren mit Ausnahme Trotzkis alle kommunistischen Widersacher Stalins rehabilitiert), sowie den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom Januar 1989, durch den die Urteile der „Troikas“ und „Sonderberatungen“ annuliert wurden.

1989 bekam Jakowlew eine noch heiklere Aufgabe auf dem Gebiet der Vergangenheitspolitik. Er legte dem Kongreß der Volksdeputierten einen Bericht über den Hitler-Stalin-Pakt vor. Zum ersten Mal erfuhren die Sowjetmenschen offiziell von der Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zu den deutsch-sowjetischen Verträgen vom August und September 1939. Dies gab den Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Republiken Auftrieb.

Im September 1988 wurde Jakowlew auf Parteiebene für die internationale Politik zuständig. Von den Gegnern Gorbatschows wurde Jakowlew für den Zusammenbruch des Ostblocks verantwortlich gemacht und nach dem letzten Parteitag der KPdSU (Juli 1990) schied er aus seinen Parteiämtern aus. Als Mitglied des im März 1990 geschaffenen Präsidialrats blieb er jedoch in der Politik. Wenige Tage vor dem erfolglosen Putsch gegen Gorbatschow trat Jakowlew im August 1991 aus der KPdSU aus.

Von 1993 bis 1995 leitete Jakowlew als Chef von Rundfunk und Fernsehen dessen Teilprivatisierung, bis 1996 stand er noch dem Staatlichen Fernsehen vor. Als Politiker versuchte er sich ab 1995 erfolglos als Vorsitzender einer von mehreren miteinander konkurrierenden sozialdemokratischen Parteien. Jakowlew verfaßte zahlreiche Bücher, in denen er auf polemische Weise sowohl mit dem Bolschewismus als auch mit dem Marxismus abrechnete und für den Liberalismus warb. Am lesenswertesten ist seine umfangreiche Autobiographie, die dankenswerterweise auch in Deutschland veröffentlicht wurde. Nützlicher als seine Tätigkeit als Politiker und Buchautor waren nach dem Ende der Sowjetunion zwei andere Tätigkeitsfelder Jakowlews. Ab Dezember 1992 leitete Jakowlew sowohl unter Jelzin als auch unter Putin die staatliche Rehabilitierungskommission. Die Arbeit der von Jakowlew geleiteten Kommissionen bewirkte unter Gorbatschow, Jelzin und Putin die Rehabilitierung von mehr als vier Millionen Menschen. 1993 gründete Jakowlew eine eigene Stiftung, die zahlreiche Dokumentenbände zur sowjetischen Geschichte veröffentlichte. Hier findet man viele von den Dokumenten, über deren „Unzugänglichkeit“ im Westen oft geklagt wird. Die Bände handeln von Themen wie Kronstadt, Katyn, dem GULAG, den Beziehungen zu den USA, dem Nahostkonflikt, dem Jahr 1941, den Rehabilitierungen, von Stalin und der Hauptverwaltung für Staatssicherheit (1937 – 1938), von Berija, Marschall Shukow, der Ausschaltung Molotows (1957) oder den Plenartagungen des ZK 1928/29 (Liquidierung der NEP und Ausschaltung der Bucharin-Rykow-Gruppe). Es ist zu hoffen, daß auch nach Jakowlews Tod die Herausgabe der Dokumentenbände fortgesetzt wird.

Eine Einschätzung des politischen Wirkens von Alexander Jakowlew wird immer eng mit der Bewertung von Perestroika und Glasnost verbunden sein. Hierbei muß man zwischen Perestroika und Glasnost unterscheiden. Die Perestroika ist in der Wirtschaft gescheitert und brachte den Russen im Ergebnis an Stelle der Staatswirtschaft mit lebenslanger Arbeitsplatzgarantie einen mafiosen Kapitalismus mit katastrophalen Folgen für den Lebensstandard. Für die Völker der europäischen „Bruderstaaten“ und des Baltikums brachte die Perestroika die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts und dies ist begrüßenswert. Der Zerfall des Sowjetimperiums hatte jedoch auch negative Folgen: Die Sowjetunion war allein durch ihre Existenz als Supermacht ein Gegengewicht zum Imperialismus. Der Aggressivität des Imperialismus waren Zügel angelegt und wegen der Systemkonkurrenz mußte der Kapitalismus soziale Zugeständnisse machen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion existiert dieses Gegengewicht nicht mehr und die Folgen können wir sehen. Positiv muß dagegen die Glasnost bewertet werden. Die Russen bekamen dadurch die Freiheit des Denkens und heute gibt es in Rußland mehr geistige Freiheit als in der BRD. Dies wäre ohne das Wirken von Gorbatschow und Jakowlew nicht möglich und davon profitieren auch Kommunisten und Nationalpatrioten, die Gorbatschow und Jakowlew hassen.

Lesetip:

Alexander Jakowlew. Die Abgründe meines Jahrhunderts : eine Autobiographie. – Leipzig: Faber & Faber, 2003
ISBN 3-936618-12-7

Erstveröffentlichung im Oktober 2005 in der Berliner Umschau