Von Hans-Werner Klausen
Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen der französischen Originalausgabe der Trotzki-Biographie von Pierre Broué erschien Ende 2003 die deutsche Übersetzung. Dem Verfasser ist es gut gelungen, den westlichen Forschungsstand vor der teilweisen Öffnung der sowjetischen Archive zusammenzufassen; daher ist es ein sehr lesenswertes Buch. Das Buch hat aber auch noch einen anderen Zweck – einen Trotzki zu präsentieren, der auf möglichst weite Kreise der linksliberalen und sozialdemokratischen Öffentlichkeit im Westen, auf osteuropäische Dissidenten und auf intellektuelle „Perestroikisten“ in der Sowjetunion sympathisch wirken soll.
Broué war sowohl auf den wissenschaftlichen als auch auf den politischen Zweck seines Buches gut vorbereitet. Der emeritierte Professor der Universität Grenoble gibt seit Jahrzehnten die Schriften Trotzkis in Frankreich heraus und hat ab 1980 als erster Wissenschaftler die bis dahin gesperrte Sonderabteilung des Trotzki-Nachlasses in der Harvard University ohne Sondererlaubnis ausgewertet (vor ihm hatte nur Isaac Deutscher Zugang zu diesem Teil des Nachlasses). Zugleich war Broué bis 1988 jahrzehntelang in der trotzkistischen Sekte der „Lambertisten“ aktiv. Die „Lambertisten“ sind auch in der Öffentlichkeit wirksam, hauptsächlich arbeiten sie jedoch „entristisch“ in der Sozialistischen Partei und in der Gewerkschaft „Force Ouvrière“ und haben (wenn man der „World Socialist Web Site“ glauben kann) gleichzeitig enge Beziehungen zur Freimaurerloge „Grand Orient“. Erfolgreichster Lambertist war der ehemalige französische Premierminister Lionel Jospin, der während seiner Ausbildung an der Verwaltungshochschule ENA Geheimmitglied bei den Lambertisten wurde. Erst 1986 oder 1988, mehrere Jahre nach seiner Wahl zum Ersten Sekretär der Partei Mitterrands, brach Jospin seine Verbindung zu den Lambertisten ab. Von anderen Trotzkisten haben sich die Lambertisten immer durch besonders ausgeprägten Antisowjetismus unterschieden; man könnte sie als Sozialdemokraten im Trotzkipelz bezeichnen.
Eine Biographie Trotzkis muß sich immer den Vergleich mit der Arbeit Isaac Deutschers gefallen lassen, deren englische Originalausgabe von 1954 bis 1963 erschien. Deutschers Buch war sowohl eine imposante wissenschaftliche Leistung als auch literarisch gut geschrieben. Deutscher hatte sich 1938 vom organisierten Trotzkismus abgewandt, blieb jedoch ein Bewunderer Trotzkis und auch die ideologische Konzeption seiner Bücher war stark trotzkistisch gefärbt. Sowohl bei Deutscher als auch bei Broué ist Trotzki makellos und edel, er hat fast immer Recht , und wenn Trotzki nicht Recht hat, gibt es mildernde Umstände. Allerdings ist Deutscher gegenüber seinem Helden objektiver als Broué.
Broué kann einige (in der Regel nicht sehr erhebliche) faktische Unrichtigkeiten Deutschers korrigieren und hat eine größere Liebe zum Detail als Deutscher. Broué berichtet auf der Grundlage des Trotzki-Nachlasses ausführlicher als Deutscher über Trotzkis Aktivitäten bei der Organisierung der internationalen „trotzkistischen“ Bewegung nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion; dies ist der wichtigste Vorzug von Broués Buch gegenüber bisherigen Biographien Trotzkis. Fast jeder Sozialist oder Kommunist, der mit dem exilierten Trotzki zu tun hatte, wird bei Broué erwähnt. Bei Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung betrifft dies insbesondere Jacob Walcher, Hugo Urbahns sowie das Duo Ruth Fischer – Arkadi Maslow.
Walcher (1924 als Brandlerist aus der KPD-Zentrale entfernt, 1929 Mitbegründer der KPO, seit 1932 einer der Führer der SAP) und Trotzki kannten sich bereits aus den frühen Jahren der Komintern (bis 1923).
1933 verhandelten Walcher und Trotzki über die Gründung einer neuen Internationale; da Trotzki keinen Widerspruch ertragen konnte, überwarfen sich Trotzki und die SAP kurz darauf. Walcher kehrte 1945 in den Schoß der alleinseligmachenden Partei zurück; seine Verhandlungen mit Trotzki waren 1952 einer der Hauptgründe für den Ausschluß aus der SED. Urbahns gab seit 1927 die Zeitung „Fahne des Kommunismus“ heraus und hatte 1928 den „Leninbund“ gegründet, der sich mit der russischen „Linken Opposition“ (Trotzkisten) solidarisierte und viele Artikel Trotzkis in seiner Zeitung veröffentlichte. Da Urbahns nicht bereit war, jedes Wort Trotzkis als der Weisheit letzten Schluß zu akzeptieren, kam es 1930 zur Abspaltung der chemisch reinen Trotzkisten, die sich ihrerseits kurz darauf spalteten. Die von der Komintern 1925 aus guten und weniger guten Gründen abgehalfterte KPD-Führerin Ruth Fischer wurde 1933 in das internationale Sekretariat der Trotzkisten kooptiert und überwarf sich 1936 mit den Trotzkisten.
Wer Deutschers Buch bereits kennt, sollte bei der Lektüre von Broués Buch mit dem zweiten Band beginnen. Dagegen bringt der erste Band, der Trotzkis Leben bis zur Ausweisung aus der SU behandelt, im Vergleich zu Deutscher nicht viel Neues. Broués Trotzki ist gerade im ersten Band stark dem politischen Geschmack des linksliberal-sozialdemokratischen Lesepublikums angeglichen. So meint Broué, die Unterdrückung der Kronstädter Rebellion und der Einmarsch in Georgien (1921) habe bei Trotzki einen „bitteren Beigeschmack“ hinterlassen und Trotzki habe seine Broschüre zur Rechtfertigung des Einmarsches in Georgien nur aus Parteidisziplin geschrieben. Broué bringt dafür keine Belege; Trotzkis Schriften auch aus der Zeit, als er nicht mehr an der Macht war, sprechen jedenfalls nicht dafür. Den Einmarsch in Georgien rechtfertigte er auch 1940, als er durch keine Parteidisziplin mehr gebunden war. Er beharrte auch in den dreißiger Jahren auf der Richtigkeit der Niederwerfung der Kronstädter Rebellion. Broué wie Deutscher meinen, Trotzki sei 1920 aus grundsätzlichen Motiven gegen den versuchten Revolutionsexport nach Polen gewesen. Der wirkliche Grund dürfte eher die Einschätzung des Kräfteverhältnisses gewesen sein. Prinzipiell hatte Trotzki, der bereits 1919 die Vorbereitung eines Feldzugs nach Indien vorgeschlagen hatte, nichts gegen einen Revolutionsexport einzuwenden. Während des Finnlandkrieges (1939 – 1940) kritisierte er nicht den sowjetischen Angriff auf Finnland, sondern die stümperhafte Kriegführung.
Im Zusammenhang mit dem X. Parteitag und der Wendung zur NEP (1921/22) beschreibt Broué zutreffend, daß die Unterdrückung der nichtbolschewistischen Sozialisten von Trotzki mitgetragen wurde. Obwohl Broué das vom X. Parteitag verhängte Fraktionsverbot innerhalb der herrschenden Partei erwähnt, kommt Trotzkis damalige Position hierzu nicht vor – für eine Trotzki-Biographie, die sich durch große Detailkenntnis auszeichnet erstaunlich. Trotzki hatte sowohl für das Fraktionsverbot gestimmt als auch für die Resolution, durch die die „Arbeiteropposition“ (Schljapnikow, Kollontai u. a.) zur „anarcho-syndikalistischen Abweichung“ erklärt wurde. Auf dem X. Parteitag polemisierte Trotzki gegen die „gefährlichen Gedanken“ der „Arbeiteropposition“, die aus der Arbeiterdemokratie einen Fetisch gemacht habe (bei Deutscher findet man das Zitat, bei Broué nicht). 1922 beschwerte sich die „Arbeiteropposition“ bei der Komintern über die undemokratischen Zustände in der Partei und in den Gewerkschaften. Trotzki war nicht auf der Seite der Kritiker sondern der Kritisierten. Auf dem XI. Parteitag (1922) warf Trotzki der „Arbeiteropposition“ vor, ihre Kritik nütze dem Klassenfeind.
Seine Liebe zur innerparteilichen Demokratie entdeckte Trotzki ziemlich plötzlich 1923, als die führende Troika Sinowjew-Kamenew-Stalin planmäßig die Machtpositionen Trotzkis untergrub. Da Trotzki im Zentralkomitee und im Parteiapparat kaum Anhänger hatte, mußte er sich nach einer Basis außerhalb des Apparats umsehen; dabei stahl er der „Arbeiteropposition“ einen Teil der Argumente. Die demokratischen Bekenntnisse Trotzkis erscheinen angesichts der Sitten in den „trotzkistischen“ Organisationen in eigenartigem Licht. Trotzki duldete keinen Widerspruch und verlangte unbedingten Gehorsam. Die trotzkistischen Sekten stellten dem Stalinkult ihren eigenen Führerkult entgegen. Trotzki scheint geglaubt zu haben, die Arbeiter stünden im Grunde auf seiner Seite und wüßten es nur noch nicht. Bemerkenswert ist auch, daß Trotzki in seiner Stalin-Biographie Stalin einen „plebejischen Demokraten“ schimpft, wobei der verächtliche Akzent auf dem Wort „Demokrat“ liegt.
Ein Kapitel von Broués Buch behandelt Trotzkis Rolle in den ersten Jahren der Komintern (bis 1923), insbesondere in deutschen Fragen. Dagegen wird auf seine Rolle gegenüber der Französischen KP nicht näher eingegangen, obwohl Trotzki bis 1923 in der Kominternführung für Frankreich zuständig war. Liegt Broués Wortkargheit daran, daß Trotzki auf dem IV. Kominternkongreß (1922) einen Unvereinbarkeitsbeschluß über die Zugehörigkeit zur KP und den Freimaurerlogen durchsetzte? Infolge dieses Beschlusses trat ein großer Teil der damaligen Parteiführung aus der Französischen KP aus.
Auf die Diskussionen der zwanziger Jahre über „Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“ geht Broué nicht ausführlicher ein. Der nichttrotzkistische Leser ist dem Autor dafür dankbar, denn diese Diskussionen hatten das Niveau mittelalterlichen Pfaffengezänks („Wie viele Engel haben auf einer Nadelspitze Platz?“). Trotzkis 1930 veröffentlichte Schrift über die „Permanente Revolution“ ist wahrscheinlich das langweiligste Buch Trotzkis, der ansonsten sehr gut schreiben konnte (Erich Mühsam meinte, diese Schrift sei etwas für Liebhaber „marxistischer Flohknackerei“). Erstaunlich ist allerdings gleichzeitig, daß Broué als Trotzkist auf eine ausführlichere Darlegung verzichtet.
Trotz seiner Mängel und Auslassungen ist Broués Buch die bisher gründlichste Biographie Trotzkis, die dem deutschen Leser vorliegt (die 1992 erschienene Biographie von Generaloberst Wolkogonow, der als erster Trotzki-Biograph sowjetische Archive nutzen konnte, wurde vom deutschen Verlag um mehr als ein Drittel gekürzt). Dem Buch sind daher viele Leser zu wünschen. Hoffentlich befinden sich darunter auch kritische Leser.
Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie. – Köln: Neuer ISP-Verlag, 2003., ISBN 3-929008-33-5
Band 1 – Vom ukrainischen Bauernsohn zum Verbannten Stalins
Band 2 – Der Kampf gegen Stalinismus und Faschismus
Erstveröffentlichung am 13. Juli 2004 in der Berliner Umschau